Das Haus der toten Bilder
2022
Ein Philosoph trieb sich immer dort herum, wo Kinder spielten. Und sah er einen Jungen, der einen Kreisel hatte, so lauerte er schon. Kaum war der Kreisel in Drehung, verfolgte ihn der Philosoph, um ihn zu fangen. Daß die Kinder lärmten und ihn von ihrem Spielzeug abzuhalten suchten, kümmerte ihn nicht, hatte er den Kreisel, solange er sich noch drehte, gefangen, war er glücklich, aber nur einen Augenblick, dann warf er ihn zu Boden und ging fort. Er glaubte nämlich, die Erkenntnis jeder Kleinigkeit, also zum Beispiel eines sich drehenden Kreisels, genüge zur Erkenntnis des Allgemeinen. Darum beschäftigte er sich nicht mit den großen Problemen, das schien ihm unökonomisch. War die kleinste Kleinigkeit wirklich erkannt, dann war alles erkannt, deshalb beschäftigte er sich nur mit dem sich drehenden Kreisel. Und immer, wenn die Vorbereitungen zum Drehen des Kreisels gemacht wurden, hatte er die Hoffnung, nun werde es gelingen, und drehte sich der Kreisel, wurde ihm im atemlosen Laufen nach ihm die Hoffnung zur Gewißheit, hielt er aber dann das dumme Holzstück in der Hand, wurde ihm übel und das Geschrei der Kinder, das er bisher nicht gehört hatte und das ihm jetzt plötzlich in die Ohren fuhr, jagte ihn fort, er taumelte wie ein Kreisel unter einer ungeschickten Peitsche.
Das Haus der toten Bilder
Franz Kafka, DER KREISEL
Als ich in den Neuziger Jahren eine Installation in der Galerie der Hauptstadt Prag einrichtete, lernte ich in einem Kaffee vor dem Thainsdom auf dem Altstädter Ring einen alten Mann kennen. Er erzählte mir eine sonderbare Geschichte, die er in der Zwischenkriegszeit erlebt haben muss. Als kleiner Junge spielte er mit seinen Kameraden genau hier vor dem Dom mit einem Kreisel. Ein hagerer, gut gekleideter Mann mit blassem Gesicht stand daneber und beobachtete die Knaben. «Nach einer Weile sprach er mich an: Bub, nimm hier zwei Kronen. Geh und lauf hoch in den Turm des Doms, ganz nach oben, bis die Treppe endet. Dort oben ist ein Fenster voll von Spinnennetzen. Geh und bring mir eine Handvoll davon. Später habe ich erfahren, dass dieser Mann Franz Kafka war.» Ich bedankte mich beim alten Mann und bezahle seinen Kaffee.
Damals beschäftigte ich mit Erinnerungen, mit Geschichte. Nachdem meine Grossmutter starb, räumte ich den Dachboden der Hauses und baute daraus die Ahnenhütte im Kunstraum Aarau, die ich dann im Centre Pasquart in Biel zu Kleinholz zersägte. Mit einem Brandeisen brannte ich den Holzstücken die Schrift KUNST MACHT FREI ein. Was mal ein Baum gewesen war, dann zu einem Möbel wurde, einem Tisch oder einem Schrank meines Urgrossvaters, wurde nun wieder zu Holz, befreit auch von meinem Urgrossvater.
Im Projekt «Kommen tote Bilder auch in den Himmel» bearbeite ich Bilder, die ich beim Trödler kaufe. Es sind Bilder von Amateuren ohne künstlerischen Wert. Ihr Wert lag in der Erinnerung an einen geliebten Menschen. Als dieser Mensch verstarb und das Bild an niemanden mehr erinnerte, starben auch die Bilder.
Zunächst hängte ich die «toten Bilder» an die Wände meines Ateliers. Doch ich fühlte mich zunehmend unwohl mit all den toten Menschen. Und ich wollte die Wände wieder leer haben. Ich beschloss für die toten Bilder und die Seelen, die vielleicht darin wohnen, ein Haus bauen. Ein Haus für tote Erinnerungen. Ich begann damit, meine eigenen schlechten Bilder zu zersägen. Wir bauten Möbel für das Haus der Toten; Hocker und Sitzbänke, die gleichzeitig auch als Regale zum Aufbewahren der Bilder, Fotoalben und Fotos dienen. Aus Industriepaletten bauten wir dann den Boden und die Wände des Hauses. Es ist durchsichtig und luftig – keine Gruft. Dann habe ich es in warmen Tönen bemalt in den warmen Farben eines Sonnenuntergangs von Caspar David Friedrich. Das Haus ist ein paradaischer Käfig. Es schützt die Erinnerungen der Toten vor uns, aber auch uns vor den Toten. Es ist ein Archiv und ein Ausstellungsraum. Die Besucher müssen ihre Schuhe ausziehen, wenn sie eintreten. Sie dürfen sich setzten und alle Objekte aus den Sitzbänken in die Hand nehmen, sichten. Sie dürfen auch Bilder aufhängen oder versorgen. Sie dürfen ihre eigene Ausstellung machen. Eine Ausstellung der toten Erinnerungen.
Ein Philosoph trieb sich immer dort herum, wo Kinder spielten. Und sah er einen Jungen, der einen Kreisel hatte, so lauerte er schon. Kaum war der Kreisel in Drehung, verfolgte ihn der Philosoph, um ihn zu fangen. Daß die Kinder lärmten und ihn von ihrem Spielzeug abzuhalten suchten, kümmerte ihn nicht, hatte er den Kreisel, solange er sich noch drehte, gefangen, war er glücklich, aber nur einen Augenblick, dann warf er ihn zu Boden und ging fort. Er glaubte nämlich, die Erkenntnis jeder Kleinigkeit, also zum Beispiel eines sich drehenden Kreisels, genüge zur Erkenntnis des Allgemeinen. Darum beschäftigte er sich nicht mit den großen Problemen, das schien ihm unökonomisch. War die kleinste Kleinigkeit wirklich erkannt, dann war alles erkannt, deshalb beschäftigte er sich nur mit dem sich drehenden Kreisel. Und immer, wenn die Vorbereitungen zum Drehen des Kreisels gemacht wurden, hatte er die Hoffnung, nun werde es gelingen, und drehte sich der Kreisel, wurde ihm im atemlosen Laufen nach ihm die Hoffnung zur Gewißheit, hielt er aber dann das dumme Holzstück in der Hand, wurde ihm übel und das Geschrei der Kinder, das er bisher nicht gehört hatte und das ihm jetzt plötzlich in die Ohren fuhr, jagte ihn fort, er taumelte wie ein Kreisel unter einer ungeschickten Peitsche.
Das Haus der toten Bilder
Franz Kafka, DER KREISEL
Als ich in den Neuziger Jahren eine Installation in der Galerie der Hauptstadt Prag einrichtete, lernte ich in einem Kaffee vor dem Thainsdom auf dem Altstädter Ring einen alten Mann kennen. Er erzählte mir eine sonderbare Geschichte, die er in der Zwischenkriegszeit erlebt haben muss. Als kleiner Junge spielte er mit seinen Kameraden genau hier vor dem Dom mit einem Kreisel. Ein hagerer, gut gekleideter Mann mit blassem Gesicht stand daneber und beobachtete die Knaben. «Nach einer Weile sprach er mich an: Bub, nimm hier zwei Kronen. Geh und lauf hoch in den Turm des Doms, ganz nach oben, bis die Treppe endet. Dort oben ist ein Fenster voll von Spinnennetzen. Geh und bring mir eine Handvoll davon. Später habe ich erfahren, dass dieser Mann Franz Kafka war.» Ich bedankte mich beim alten Mann und bezahle seinen Kaffee.
Damals beschäftigte ich mit Erinnerungen, mit Geschichte. Nachdem meine Grossmutter starb, räumte ich den Dachboden der Hauses und baute daraus die Ahnenhütte im Kunstraum Aarau, die ich dann im Centre Pasquart in Biel zu Kleinholz zersägte. Mit einem Brandeisen brannte ich den Holzstücken die Schrift KUNST MACHT FREI ein. Was mal ein Baum gewesen war, dann zu einem Möbel wurde, einem Tisch oder einem Schrank meines Urgrossvaters, wurde nun wieder zu Holz, befreit auch von meinem Urgrossvater.
Im Projekt «Kommen tote Bilder auch in den Himmel» bearbeite ich Bilder, die ich beim Trödler kaufe. Es sind Bilder von Amateuren ohne künstlerischen Wert. Ihr Wert lag in der Erinnerung an einen geliebten Menschen. Als dieser Mensch verstarb und das Bild an niemanden mehr erinnerte, starben auch die Bilder.
Zunächst hängte ich die «toten Bilder» an die Wände meines Ateliers. Doch ich fühlte mich zunehmend unwohl mit all den toten Menschen. Und ich wollte die Wände wieder leer haben. Ich beschloss für die toten Bilder und die Seelen, die vielleicht darin wohnen, ein Haus bauen. Ein Haus für tote Erinnerungen. Ich begann damit, meine eigenen schlechten Bilder zu zersägen. Wir bauten Möbel für das Haus der Toten; Hocker und Sitzbänke, die gleichzeitig auch als Regale zum Aufbewahren der Bilder, Fotoalben und Fotos dienen. Aus Industriepaletten bauten wir dann den Boden und die Wände des Hauses. Es ist durchsichtig und luftig – keine Gruft. Dann habe ich es in warmen Tönen bemalt in den warmen Farben eines Sonnenuntergangs von Caspar David Friedrich. Das Haus ist ein paradaischer Käfig. Es schützt die Erinnerungen der Toten vor uns, aber auch uns vor den Toten. Es ist ein Archiv und ein Ausstellungsraum. Die Besucher müssen ihre Schuhe ausziehen, wenn sie eintreten. Sie dürfen sich setzten und alle Objekte aus den Sitzbänken in die Hand nehmen, sichten. Sie dürfen auch Bilder aufhängen oder versorgen. Sie dürfen ihre eigene Ausstellung machen. Eine Ausstellung der toten Erinnerungen.