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Digiporn
2006

Digiporn (digitus: finger, lat.) is a series of photographs of the fingers of the artists left hand photographed by his right hand with a small digital camera in the years 2006-2008. This text summons up some thought of the artist.

 

Künstler: Do not let your left hand know what your right hand is doing, Matthew 6:2-4.

Psychiater: Was ist Digiporn?

Künstler: Es sind Aufnahmen, die ich mir einem Iphone in der rechten Hand von meiner linken Hand gemacht habe. Durch die Unschärfe entstehen Bilder von Fingerkuppen und Handfalten, die an erotische Aufnahmen erinnern. Digitus heisst Finger. Deshalb Digiporn, Porn als Fingertheater.

Psychiater: Eine Art optische Täuschung?

Künstler: Ja. Optische Täuschungen haben mich schon immer interessiert. Das Sehen ist ein Wunder, das ein Blinder nicht zu vertehen vermag. Für uns Sehende ist es zu selbstverständlich. Wir sind so „augenhörig“, dass wir unser Sehorgan nie hinterfragen. Und doch trügt der Schein und manchmal ist es mit dem ungläubigen Thomas ganz klug, dem Sehen zu misstrauen und sich auf ältere Sinnesorgane zu verlassen, zum Beispiel den Tastsinn.

Psychiater: Das Sehorgan ist ja evolutionär das jüngste Sinnesorgan. Entogenetisch eine simple Ausstülpung des Neurodermalrohrs nach vorne. Dort differzieren sich dann die Zellen zu Lichtempfindlichen Retinazellen.

Künstler: Das Sehen erschliesst sich am besten über seine Fehlfunktionen, die Blindheit, die optische Täuschung, die Fatamorgana usw.. Mich haben diese Themen schon in den 80er Jahren interessiert.[1]

Psychiater: Warum ist das Sehen ein so wichtiges Thema?

Künstler: Sehen ist Kunst und Kunst ist Sehen. The supremacy of the eye in visual arts is a tautology. Ich habe schon immer auch Angst gehabt vor der Macht des Auges. Schon als Kind erlebte ich die Macht des Sehens. Das erlebe ich nun wieder mit meiner sechsjährigen Tochter Anna. Papa, ich habe ein Gespenst gesehn. Papa bitte nicht so dunkel, etwas Licht lassen zum Einschlafen, usw.. Zu zeichnen oder zu fotografieren war für mich schon im Kindesalter eine Möglichkeit, den Bann des Visuellen zu brechen. Wenn ich etwas Visuelles darstellen kann, verstehe ich es besser und habe ich es irgenwie im Griff – zum Beispiel die Pornografie.

Psychiater: Lass mich deine künstlerischen Erfahrungen auf eine anthropologische und evolutionstheoretische Basis stellen. Darf ich an dieser Stelle M.T. zitieren, den führenden Forscher auf dem Gebiet der Evolution der Sinnesorgane? M.T. schreibt: „Viele Tiere verlassen sich weitaus mehr auf Gehör und Geruch, und die Dominanz des Sehens scheint eine bemerkenswert menschliche Erfindung zu sein. Schauen wir uns die Geschichte dieser Entwicklung an. Die Entstehung dieser Vorrangstellung gegenüber früheren Sinnesmodalitäten in unserem Körper und in unserer Kultur geht auf evolutionäre Prozesse zurück, die lange Zeit zurückliegen. Paläontologen sagen, sie sei nach der Entstehung des ostafrikanischen Grabenbruchs vor etwa 40 Millionen Jahren eingetreten. Knochenfunde zeigen uns, dass dieser enorme geologische Zusammenstoß der tektonischen Platten zu einer Klimaveränderung in dieser für die Evolution unserer Spezies wichtigen geografischen Region führte. Die Vegetation Ostafrikas verwandelte sich von einer feuchten Waldlandschaft in eine trockene, baumlose Savanne. Für unsere Vorfahren wurde dieser Wandel zu einer Herausforderung und gleichzeitig zu einer Chance, andere Arten zu übertreffen.

Beim Abstieg von den Bäumen und dem Betreten der Grenzregion zwischen dem verschwindenden Wald und dem neuen offenen Raum, der von hohem Gras bedeckt war, passten sich die Hominiden durch zwei geniale Veränderungen an. Erstens richteten sie sich auf. Sie standen auf ihren Hinterextremitäten, was ihnen ermöglichte, die Vorderextremitäten freizumachen, um sie zu Händen zu entwickeln, und gleichzeitig den Kopf vom Boden hoch in die Luft zu heben. Sie lernten, die Hände auf eine neue Weise zu nutzen.

Zweitens begannen sie zu sehen. Die Augen, die nun über dem Gras lagen und die weiten Flächen der Savanne überblickten, wurden zu einem hervorragenden Sinneswerkzeug, das viel größere Entfernungen abdecken konnte als Nase und Ohren. Die Evolution des Auges, die Opposition der Daumen (die es ermöglichte, Werkzeuge mit der Hand zu benutzen) und der mächtige zerebrale Kortex, der schließlich zur Nutzung von Sprache und damit zur Gesellschaft führte, unterschieden die Hominiden und ermöglichten es ihnen, die Savanne und die Welt zu beherrschen.

Doch lange bevor dieser Schritt in der ostafrikanischen Tiefebene erfolgen konnte, musste die Evolution der drei Farbrezeptoren der Netzhaut des Auges stattfinden. Die Evolution der Farbrezeptoren des Auges in den frühen Wirbeltieren vor etwa 50 Millionen Jahren war eine komplexe evolutionäre Wechselwirkung zwischen Säugetieren, die Früchte und Beeren sammelten, und den Pflanzen, die sie trugen. Je besser die Beeren im Grün des Baumes sichtbar waren, desto besser war es sowohl für die Fresser als auch für den Baum, der davon profitierte, dass seine Samen durch die fressenden Säugetiere verbreitet wurden.

Die beste Farbe für die Beere ist Signalrot: RAL 3001 oder CMYK 0:100:100:20. Genau diese Farbe verwenden wir, um wichtige Dinge zu markieren: Sex und Gefahr. Lippenstift ist rot, und das Stoppschild ist rot. Eine symbiotische Evolution des Auges und der Pflanzen führte gleichzeitig sowohl zur roten Farbe der Früchte als auch zum roten Rezeptor der Netzhaut. Wir sehen Rot, weil die Erdbeere und die Kirsche rot sind – und umgekehrt.

Weil diese evolutionäre Wechselwirkung so erfolgreich war, ist der Rot-Grün-Kontrast so dominant in unserer Wahrnehmung. Das Auge und der rote Rezeptor wurden in den folgenden Millionen Jahren zur wichtigsten Sinnesausstattung für die frühen Säugetiere.“

Künstler: Aber was hat das mit Digiporn zu tun, mit meinen erotischen Fingerspielereien?

Psychiater: Es gibt einen dritten Aspekt, um die Bedeutung des menschlichen Auges zu verstehen: Das Auge ist ein sexuelles Organ. Die Erhebung von vier auf zwei Extremitäten führte zu einer Veränderung des Sexualverhaltens der Hominiden. Das Auge wurde erneut dominanter bei der erotischen Stimulation als die Nase. Der primäre erotische Bereich bei vierbeinigen Tieren ist die Vulva und das Gesäß, die von hinten sichtbar sind.

Die aufrecht gehenden zweibeinigen Hominiden scheinen einen zusätzlichen visuellen Reiz entwickelt zu haben, der in stehender Position von vorne aus großer Entfernung sichtbar ist – die Brust – die formal an die Form des Gesäßes im Rücken angelehnt ist. Die verborgene Vulva bei den Hominiden führte zur verborgenen Ovulation, die unter Anthropologen als eine unverzichtbare Voraussetzung für die Entwicklung komplexer sozialer Strukturen angesehen wird. Die Zusammenarbeit der Männchen einer Hominiden-Gruppe war möglich, weil sie nicht wussten, wann ein Weibchen der Gruppe ovulierte.

Dies führte zur Entwicklung komplexer sexueller Verhaltensweisen mit mehr oder weniger konstanten sexuellen Aktivitäten, die nur lose mit dem Ziel der Befruchtung des Weibchens verbunden waren. Die Kontinuität der Sexualisierung war wahrscheinlich eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung langfristiger Familienstrukturen und damit für die menschliche Protosozietät. Die Vorrangstellung des Auges und die allgegenwärtige sexuelle Bestimmung des Gehirns sind die beiden Hauptbedingungen für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft.

Künstler: Das Auge ist kein objektives Sinnesorgan und ebenso komplex wie die Erotik. Deshalb macht es vielen Künstlern ja so Spaß, erotische Bilder zum Ausgangspunkt künstlerischer Spielereien zu nehmen. Ich denke da an Richard Prince, Lawrence Weiner, Thomas Ruff und Hans-Peter Feldmann. Alle vier sind sehr klare Köpfe, keine „Bauchmaler“, die ihren Penis als Pinsel missbrauchen. Sie arbeiten konzeptuell und sezieren auch emotionsgeladenes Bildmaterial messerscharf.

Psychiater: Das Auge sucht nach Nahrung, Sex und Feinden, nicht nach Wahrheit. Es füttert uns mit Begierden und Ängsten. Das Auge verzerrt alles zu seiner Brauchbarkeit: Es betont Kontraste, vereinfacht visuelle Formen zu „Gestalten“, Linien zur Vertikalen des Horizonts und reagiert auf die Geschwindigkeit bewegter Objekte. Die Welt der Vision ist eine Welt optischer Täuschungen. Das Auge ist ein Werkzeug des Überlebens, nicht der Erkenntnis. Wir sehen, was wir dafür gemacht sind, zu sehen. Und wir sehen Sex.

Künstler: Das Auge ist ein äusserst gefährliches Organ. Wenn Dich Dein Auge zum Bösen reizt, reiss es aus, denn es ist besser einäugig in den Himmel zu gehen…. Was das Auge nicht sieht, tut dem Herzen nicht weh.

Psychiater: Dieser wahrscheinlich nachjesuanische Bibelspruch ist interessant. Warum nur ein Auge ausreissen? Das würde insbesondere die räumliche Wahrnehmung einschränken. Auch mit einem Auge kann man Pornos schauen.

Künstler: Pornos kommt vom griechischen „schmutzig“. Pornografische Motive haben in den letzten Jahrzehnten die westliche Welt erobert. Die Werbung verwendet pornografische Abbildungen und auch in der hohen Kunst reisst der Damm. Lars von Trier hat mit dem Film Nymphomanin gezeigt, wie man „pornografische“ Szenen enttabuisieren und künstlerisch einsetzen kann.

Psychiater: In wenigen Jahren, werden wir uns über die öffentliche Darstellung sexueller Aktivitäten kaum mehr aufregen, wie Schimpanzen oder andere in Gruppen lebende Säugetiere. Wahrscheinlich war eher der Rückzug der Erotik ins Privatissimum etwas „Schmutziges“. In den 60er Jahren verstanden sich die Pioniere der Erotikindustrie als Befreier und Revolutionäre, die den bürgerlichen Starrsinn mit „Flowers and Love“ angreifen. Hugh Hefner verstand sich als Freiheitskämpfer gegen die Zensur der Pressefreiheit. Das erscheint uns heute Absurd.

Künstler: Die Pornografie hat einen ähnlich miserablen Ruf wie Drogen. Und doch ist sie ebenso alltäglich. Von sex, drugs and rockandrole der 60ties ist nur seichte Warenhausmusik übriggeblieben. Die Abstinenzgesellschaft hat z.Z. die Oberhand. Sexlose hundertjährige vegetarische Nichtraucher sind das gesellschaftliche Leitbild. Gesund und natürlich sind sie plangemäss uralt geworden und warten dann 30 Jahre in dementer Verblödung auf das Ende. Obschon auch die Jungen in ihren Zweierkisten meist unglücklich sind und die Scheidungsraten die Heiratsraten übersteigen, sind Experimente out. Wir leben immer noch in einer tiefen Restauration. Vielleicht braucht es noch eine Weile bis eine neue Generation in die Fussstapfen der Amden Nudisten, der Monte Veritas Anarchisten zu Beginn des 20. Jahrdundertanfangs treten kann und an die gesellschaftlichen Versuche der 60er Jahre anknüpft. Und Kunst sollte das Labor der Gesellschaft sein. Nicht nur ihr Makeup. Neue Experimente braucht die Welt.

Psychiater: Du bist ja Arzt, Künstler, Theatermacher und Kurator. So richtig bekannt bist Du als Propagator des tschechischen Fotografen Miroslav Tichy geworden. Tichy hast Du weltberühmt gemacht. Du hast Dich gleichzeitig als Künstler von der Öffentlichkeit zurückgezogen. Seit Tichys erster Ausstellung 2004 hast Du nun über zehn Jahre nicht mehr ausgestellt. Hast Du Dich selbst aufgegeben?

Künstler: Ich habe von Tichy gelernt, dass man sich als Künstler unter bestimmten Umständen als Künstler vor der Öffentlichkeit schützen muss. Tichy konnte nicht ausstellen, was er machte. Er wäre weder verstanden, noch geschätzt worden. Es war weise von ihm, sich auf ein Privatissimum zurückzuziehen und einfach im Geheimen zu arbeiten – nur für sich selbst. Als ich zu Tichy’s Kurator wurde, war es richtig, dass ich mich als Künstler aus dem öffentlichen Betrieb zurückgezogen habe. Ich habe weitergearbeitet, wie Tichy, nur für mich, im Geheimen. Ein Schriftstellen kann selten aufhören zu schreiben oder ein Philosoph zu denken. Ich liebe es jeden Tag zu malen. Ganz ohne Publikum.

Digiporn (digitus: finger, lat.) is a series of photographs of the fingers of the artists left hand photographed by his right hand with a small digital camera in the years 2006-2008. This text summons up some thought of the artist.

 

Künstler: Do not let your left hand know what your right hand is doing, Matthew 6:2-4.

Psychiater: Was ist Digiporn?

Künstler: Es sind Aufnahmen, die ich mir einem Iphone in der rechten Hand von meiner linken Hand gemacht habe. Durch die Unschärfe entstehen Bilder von Fingerkuppen und Handfalten, die an erotische Aufnahmen erinnern. Digitus heisst Finger. Deshalb Digiporn, Porn als Fingertheater.

Psychiater: Eine Art optische Täuschung?

Künstler: Ja. Optische Täuschungen haben mich schon immer interessiert. Das Sehen ist ein Wunder, das ein Blinder nicht zu vertehen vermag. Für uns Sehende ist es zu selbstverständlich. Wir sind so „augenhörig“, dass wir unser Sehorgan nie hinterfragen. Und doch trügt der Schein und manchmal ist es mit dem ungläubigen Thomas ganz klug, dem Sehen zu misstrauen und sich auf ältere Sinnesorgane zu verlassen, zum Beispiel den Tastsinn.

Psychiater: Das Sehorgan ist ja evolutionär das jüngste Sinnesorgan. Entogenetisch eine simple Ausstülpung des Neurodermalrohrs nach vorne. Dort differzieren sich dann die Zellen zu Lichtempfindlichen Retinazellen.

Künstler: Das Sehen erschliesst sich am besten über seine Fehlfunktionen, die Blindheit, die optische Täuschung, die Fatamorgana usw.. Mich haben diese Themen schon in den 80er Jahren interessiert.[1]

Psychiater: Warum ist das Sehen ein so wichtiges Thema?

Künstler: Sehen ist Kunst und Kunst ist Sehen. The supremacy of the eye in visual arts is a tautology. Ich habe schon immer auch Angst gehabt vor der Macht des Auges. Schon als Kind erlebte ich die Macht des Sehens. Das erlebe ich nun wieder mit meiner sechsjährigen Tochter Anna. Papa, ich habe ein Gespenst gesehn. Papa bitte nicht so dunkel, etwas Licht lassen zum Einschlafen, usw.. Zu zeichnen oder zu fotografieren war für mich schon im Kindesalter eine Möglichkeit, den Bann des Visuellen zu brechen. Wenn ich etwas Visuelles darstellen kann, verstehe ich es besser und habe ich es irgenwie im Griff – zum Beispiel die Pornografie.

Psychiater: Lass mich deine künstlerischen Erfahrungen auf eine anthropologische und evolutionstheoretische Basis stellen. Darf ich an dieser Stelle M.T. zitieren, den führenden Forscher auf dem Gebiet der Evolution der Sinnesorgane? M.T. schreibt: „Viele Tiere verlassen sich weitaus mehr auf Gehör und Geruch, und die Dominanz des Sehens scheint eine bemerkenswert menschliche Erfindung zu sein. Schauen wir uns die Geschichte dieser Entwicklung an. Die Entstehung dieser Vorrangstellung gegenüber früheren Sinnesmodalitäten in unserem Körper und in unserer Kultur geht auf evolutionäre Prozesse zurück, die lange Zeit zurückliegen. Paläontologen sagen, sie sei nach der Entstehung des ostafrikanischen Grabenbruchs vor etwa 40 Millionen Jahren eingetreten. Knochenfunde zeigen uns, dass dieser enorme geologische Zusammenstoß der tektonischen Platten zu einer Klimaveränderung in dieser für die Evolution unserer Spezies wichtigen geografischen Region führte. Die Vegetation Ostafrikas verwandelte sich von einer feuchten Waldlandschaft in eine trockene, baumlose Savanne. Für unsere Vorfahren wurde dieser Wandel zu einer Herausforderung und gleichzeitig zu einer Chance, andere Arten zu übertreffen.

Beim Abstieg von den Bäumen und dem Betreten der Grenzregion zwischen dem verschwindenden Wald und dem neuen offenen Raum, der von hohem Gras bedeckt war, passten sich die Hominiden durch zwei geniale Veränderungen an. Erstens richteten sie sich auf. Sie standen auf ihren Hinterextremitäten, was ihnen ermöglichte, die Vorderextremitäten freizumachen, um sie zu Händen zu entwickeln, und gleichzeitig den Kopf vom Boden hoch in die Luft zu heben. Sie lernten, die Hände auf eine neue Weise zu nutzen.

Zweitens begannen sie zu sehen. Die Augen, die nun über dem Gras lagen und die weiten Flächen der Savanne überblickten, wurden zu einem hervorragenden Sinneswerkzeug, das viel größere Entfernungen abdecken konnte als Nase und Ohren. Die Evolution des Auges, die Opposition der Daumen (die es ermöglichte, Werkzeuge mit der Hand zu benutzen) und der mächtige zerebrale Kortex, der schließlich zur Nutzung von Sprache und damit zur Gesellschaft führte, unterschieden die Hominiden und ermöglichten es ihnen, die Savanne und die Welt zu beherrschen.

Doch lange bevor dieser Schritt in der ostafrikanischen Tiefebene erfolgen konnte, musste die Evolution der drei Farbrezeptoren der Netzhaut des Auges stattfinden. Die Evolution der Farbrezeptoren des Auges in den frühen Wirbeltieren vor etwa 50 Millionen Jahren war eine komplexe evolutionäre Wechselwirkung zwischen Säugetieren, die Früchte und Beeren sammelten, und den Pflanzen, die sie trugen. Je besser die Beeren im Grün des Baumes sichtbar waren, desto besser war es sowohl für die Fresser als auch für den Baum, der davon profitierte, dass seine Samen durch die fressenden Säugetiere verbreitet wurden.

Die beste Farbe für die Beere ist Signalrot: RAL 3001 oder CMYK 0:100:100:20. Genau diese Farbe verwenden wir, um wichtige Dinge zu markieren: Sex und Gefahr. Lippenstift ist rot, und das Stoppschild ist rot. Eine symbiotische Evolution des Auges und der Pflanzen führte gleichzeitig sowohl zur roten Farbe der Früchte als auch zum roten Rezeptor der Netzhaut. Wir sehen Rot, weil die Erdbeere und die Kirsche rot sind – und umgekehrt.

Weil diese evolutionäre Wechselwirkung so erfolgreich war, ist der Rot-Grün-Kontrast so dominant in unserer Wahrnehmung. Das Auge und der rote Rezeptor wurden in den folgenden Millionen Jahren zur wichtigsten Sinnesausstattung für die frühen Säugetiere.“

Künstler: Aber was hat das mit Digiporn zu tun, mit meinen erotischen Fingerspielereien?

Psychiater: Es gibt einen dritten Aspekt, um die Bedeutung des menschlichen Auges zu verstehen: Das Auge ist ein sexuelles Organ. Die Erhebung von vier auf zwei Extremitäten führte zu einer Veränderung des Sexualverhaltens der Hominiden. Das Auge wurde erneut dominanter bei der erotischen Stimulation als die Nase. Der primäre erotische Bereich bei vierbeinigen Tieren ist die Vulva und das Gesäß, die von hinten sichtbar sind.

Die aufrecht gehenden zweibeinigen Hominiden scheinen einen zusätzlichen visuellen Reiz entwickelt zu haben, der in stehender Position von vorne aus großer Entfernung sichtbar ist – die Brust – die formal an die Form des Gesäßes im Rücken angelehnt ist. Die verborgene Vulva bei den Hominiden führte zur verborgenen Ovulation, die unter Anthropologen als eine unverzichtbare Voraussetzung für die Entwicklung komplexer sozialer Strukturen angesehen wird. Die Zusammenarbeit der Männchen einer Hominiden-Gruppe war möglich, weil sie nicht wussten, wann ein Weibchen der Gruppe ovulierte.

Dies führte zur Entwicklung komplexer sexueller Verhaltensweisen mit mehr oder weniger konstanten sexuellen Aktivitäten, die nur lose mit dem Ziel der Befruchtung des Weibchens verbunden waren. Die Kontinuität der Sexualisierung war wahrscheinlich eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung langfristiger Familienstrukturen und damit für die menschliche Protosozietät. Die Vorrangstellung des Auges und die allgegenwärtige sexuelle Bestimmung des Gehirns sind die beiden Hauptbedingungen für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft.

Künstler: Das Auge ist kein objektives Sinnesorgan und ebenso komplex wie die Erotik. Deshalb macht es vielen Künstlern ja so Spaß, erotische Bilder zum Ausgangspunkt künstlerischer Spielereien zu nehmen. Ich denke da an Richard Prince, Lawrence Weiner, Thomas Ruff und Hans-Peter Feldmann. Alle vier sind sehr klare Köpfe, keine „Bauchmaler“, die ihren Penis als Pinsel missbrauchen. Sie arbeiten konzeptuell und sezieren auch emotionsgeladenes Bildmaterial messerscharf.

Psychiater: Das Auge sucht nach Nahrung, Sex und Feinden, nicht nach Wahrheit. Es füttert uns mit Begierden und Ängsten. Das Auge verzerrt alles zu seiner Brauchbarkeit: Es betont Kontraste, vereinfacht visuelle Formen zu „Gestalten“, Linien zur Vertikalen des Horizonts und reagiert auf die Geschwindigkeit bewegter Objekte. Die Welt der Vision ist eine Welt optischer Täuschungen. Das Auge ist ein Werkzeug des Überlebens, nicht der Erkenntnis. Wir sehen, was wir dafür gemacht sind, zu sehen. Und wir sehen Sex.

Künstler: Das Auge ist ein äusserst gefährliches Organ. Wenn Dich Dein Auge zum Bösen reizt, reiss es aus, denn es ist besser einäugig in den Himmel zu gehen…. Was das Auge nicht sieht, tut dem Herzen nicht weh.

Psychiater: Dieser wahrscheinlich nachjesuanische Bibelspruch ist interessant. Warum nur ein Auge ausreissen? Das würde insbesondere die räumliche Wahrnehmung einschränken. Auch mit einem Auge kann man Pornos schauen.

Künstler: Pornos kommt vom griechischen „schmutzig“. Pornografische Motive haben in den letzten Jahrzehnten die westliche Welt erobert. Die Werbung verwendet pornografische Abbildungen und auch in der hohen Kunst reisst der Damm. Lars von Trier hat mit dem Film Nymphomanin gezeigt, wie man „pornografische“ Szenen enttabuisieren und künstlerisch einsetzen kann.

Psychiater: In wenigen Jahren, werden wir uns über die öffentliche Darstellung sexueller Aktivitäten kaum mehr aufregen, wie Schimpanzen oder andere in Gruppen lebende Säugetiere. Wahrscheinlich war eher der Rückzug der Erotik ins Privatissimum etwas „Schmutziges“. In den 60er Jahren verstanden sich die Pioniere der Erotikindustrie als Befreier und Revolutionäre, die den bürgerlichen Starrsinn mit „Flowers and Love“ angreifen. Hugh Hefner verstand sich als Freiheitskämpfer gegen die Zensur der Pressefreiheit. Das erscheint uns heute Absurd.

Künstler: Die Pornografie hat einen ähnlich miserablen Ruf wie Drogen. Und doch ist sie ebenso alltäglich. Von sex, drugs and rockandrole der 60ties ist nur seichte Warenhausmusik übriggeblieben. Die Abstinenzgesellschaft hat z.Z. die Oberhand. Sexlose hundertjährige vegetarische Nichtraucher sind das gesellschaftliche Leitbild. Gesund und natürlich sind sie plangemäss uralt geworden und warten dann 30 Jahre in dementer Verblödung auf das Ende. Obschon auch die Jungen in ihren Zweierkisten meist unglücklich sind und die Scheidungsraten die Heiratsraten übersteigen, sind Experimente out. Wir leben immer noch in einer tiefen Restauration. Vielleicht braucht es noch eine Weile bis eine neue Generation in die Fussstapfen der Amden Nudisten, der Monte Veritas Anarchisten zu Beginn des 20. Jahrdundertanfangs treten kann und an die gesellschaftlichen Versuche der 60er Jahre anknüpft. Und Kunst sollte das Labor der Gesellschaft sein. Nicht nur ihr Makeup. Neue Experimente braucht die Welt.

Psychiater: Du bist ja Arzt, Künstler, Theatermacher und Kurator. So richtig bekannt bist Du als Propagator des tschechischen Fotografen Miroslav Tichy geworden. Tichy hast Du weltberühmt gemacht. Du hast Dich gleichzeitig als Künstler von der Öffentlichkeit zurückgezogen. Seit Tichys erster Ausstellung 2004 hast Du nun über zehn Jahre nicht mehr ausgestellt. Hast Du Dich selbst aufgegeben?

Künstler: Ich habe von Tichy gelernt, dass man sich als Künstler unter bestimmten Umständen als Künstler vor der Öffentlichkeit schützen muss. Tichy konnte nicht ausstellen, was er machte. Er wäre weder verstanden, noch geschätzt worden. Es war weise von ihm, sich auf ein Privatissimum zurückzuziehen und einfach im Geheimen zu arbeiten – nur für sich selbst. Als ich zu Tichy’s Kurator wurde, war es richtig, dass ich mich als Künstler aus dem öffentlichen Betrieb zurückgezogen habe. Ich habe weitergearbeitet, wie Tichy, nur für mich, im Geheimen. Ein Schriftstellen kann selten aufhören zu schreiben oder ein Philosoph zu denken. Ich liebe es jeden Tag zu malen. Ganz ohne Publikum.