La Grande Table
2016
Als meine Tochter klein war, stand in unserer Küche wir ein grosser Esstisch. Ich rettete den Tisch aus einem alten unbewohnten Haus in Baden, kurz bevor es abgerissen wurde. Es war ein Waschtisch aus langen Planken, vom langjährigen Gebrauch ganz glatt und abgenutzt. Der Kinderstuhl von Anna befand sich am Kopfende des Tisches. Irgendwann begann Anna auf den Tisch zu zeichnen und zu schreiben. Sie zeichnete auch auf den Kinderstuhl, auf den Boden und auf die Ziegel der Wand. Ich ermutigte sie weiterzumachen. Kunst kennt keine Grenzen, wenn sie vom Herzen eines Kindes, eines Verrückten oder eines guten Künstlers kommt.
Jahre zuvor hatte ich das Glück bei den Dreharbeiten von Heinz Bütlers Film „August Walla“ anwesend zu sein. Der Gugginger Patient und Künstler musste in dieser Zeit aus seiner Sozialwohnung in Klosterneuburg ausziehen und wurde zusammen mit seiner neunzigjährigen und bereits dementen Mutter in das „Künstlerhaus“ der Landesnervenheilanstalt Gugging verlegt. Ich verehrte August Walla seit Langem. Er war der Prototyp eines „art brut“ Künslers. Wie ein Kind bemalte Walla alltägliche Gegenstände seiner Umgebung: Den Tisch, die Schränke, die Kiste eines geliebten Hamsters und die Kübel, in die er urinierte. Während der Dreharbeiten erfuhr ich, dass die ehemalige Wohnung der Wallas leer stand und das ganze Haus demnächst abgerissen werden soll. Ich fuhr hin und fand mich in einem verlassenen Wunderland wieder. Da stand einTisch, dessen Beine in typischer Wallaschrift mit „GOTT“ beschriftet waren. Ein bemalter Schrank, beschriftete Febstersimse, eine bemalte Tür. Ja, das wars. Magie und Wirklichkeit, Zauber und Irrsinn, verdichtet in ein „Gesamtkunstwerk“. Ich demontierte Tisch und Schank, Türe und die Fenstersimse und packte alles in ein Auto und rettete die Fragmente in die Schweiz.
Erst viele Jahre später verarbeitete ich das intuitive, impulsive und manchmal magische Handeln von psychiatrischen Klinikinsassen. Ermutigt durch Gespräche und Bücher von Harald Szeemann, Alfred Bader und Leo Navratil rief ich in der Aargauischen Psychiatrischen Klinik Königsfelden in Windisch das Projekt „Künstler aus Königsfelden“ ins Leben, das Patienten der Klinik bei ihrer künstlerischen Arbeit unterstützte. So lässt sich verstehen, warum ich viele Jahre später unsere vierjährige Tochter ermutigte, den Esstisch zu zerstören.
Jahre vergingen. Anna war nicht mehr vier, sondern acht, neun Jahre alt. Der Esstisch wurde ersetzt. Er war zu schmal, ein Waschküchentisch eben – und kam wie alles das nicht mehr taugt – ins Atelier. Anna begann Fragen zu stellen. „Wie kam Gott in den Himmel?“ „Warum gibt es böse Menschen?“ „Kommen tote Bilder auch in den Himmel?“
Hier begann eine Reise, die noch nicht zu Ende ist. Wie erklärt ein Vater seiner Tochter die Welt? Ich und Anna suchten einen Weg um über Gott und die Welt zu sprechen. Die Welt war unser alter Esstisch. Wir fingen an gemeinsam zu zeichnen. Links, wo einst Anna sass, da war der Anfang der Welt, der Urknall, das Universum, die Ursuppe, die Dinosaurier. Jedes Kind kommt irgendwann in die Dinosaurierphase. Dinos gehören im Alter von vier bis fünf Jahren zur Ausstattung des Kinderzimmers und der kindlichen Phantasiewelt und spannen den Teddybären aus. Anna hatte einen grossen Dino, auf dem sie sogar reiten konnte. Er bewegte sich, machte wohlige Geräusche, drehte den Kopf und öffnete die Augen. Für einen wissenschaftlich interessierten Vater war dies die besste Einladung, ein Kind mit dem zweiten Satz der Thermodynamik, einem expandierenden Universum und dem sicheren Ende der Welt vertraut zu machen.
Der Tisch war für uns ein ein Weg, ein Ort, ein Weg und ein Werk, das seinen Anfang an Anna‘s Tischende hatte. Wir sprachen und zeichneten auf den Tisch. „Warum gibt es keine Dinosaurier mehr?“ Wo lebt das Einhorn? Wie sind Edelsteine entstanden? Gibt es die Zahnfeh überhaupt? Warst Du letztes Jahr der St. Nikolaus? Wir arbeiteten auf dem Tisch, auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Jeder für sich oder an gemeinsamen Zeichnungen und Bildern. Ich arbeite seit Jahren gerne auf Bildern, die ich Brockenhaus oder im Sperrmüll hole. Anna klebte ihre kleinen Sticker auf die Bilder und wir bearbeiteten wechselseitig oder gemeinsam das vorbestehende Bildmaterial. So entstand „The Return of the Unicorn“. Die Übermalung einer Reproduktion eines Blumenbildes von Renoir entwickelte sich zu einer Unterwasserlandschaft mit Korallen, Fischen, kleinen gefrässigen Monstern, Würmern und Stacheltieren (s. auch das Kapitel „Namoranna“).
Die Arbeiten am grossen Tisch kamen zum Ende, als unsere Gespräche zu diesen Themen einen Abschluss fanden. Anna wurde grösser und die Themen unsere Gespräche änderten. Sie wollte nichts mehr über das Universum hören oder über den verfluchten zweiten Satz der Thermodynamik. So beendeten wir de „Grossen Tisch“ – den malerischer Dialog zwischen Tochter und Vater über die Welt, das Universum und die Dinosaurier, über das Leben, das Lieben und über den Tod, der alles unterbricht, manches zerstört und manches vollendet, so dass ganz links am Kopfende des Grossen Tisches wieder etwas ganz Neues entstehen kann.
Als meine Tochter klein war, stand in unserer Küche wir ein grosser Esstisch. Ich rettete den Tisch aus einem alten unbewohnten Haus in Baden, kurz bevor es abgerissen wurde. Es war ein Waschtisch aus langen Planken, vom langjährigen Gebrauch ganz glatt und abgenutzt. Der Kinderstuhl von Anna befand sich am Kopfende des Tisches. Irgendwann begann Anna auf den Tisch zu zeichnen und zu schreiben. Sie zeichnete auch auf den Kinderstuhl, auf den Boden und auf die Ziegel der Wand. Ich ermutigte sie weiterzumachen. Kunst kennt keine Grenzen, wenn sie vom Herzen eines Kindes, eines Verrückten oder eines guten Künstlers kommt.
Jahre zuvor hatte ich das Glück bei den Dreharbeiten von Heinz Bütlers Film „August Walla“ anwesend zu sein. Der Gugginger Patient und Künstler musste in dieser Zeit aus seiner Sozialwohnung in Klosterneuburg ausziehen und wurde zusammen mit seiner neunzigjährigen und bereits dementen Mutter in das „Künstlerhaus“ der Landesnervenheilanstalt Gugging verlegt. Ich verehrte August Walla seit Langem. Er war der Prototyp eines „art brut“ Künslers. Wie ein Kind bemalte Walla alltägliche Gegenstände seiner Umgebung: Den Tisch, die Schränke, die Kiste eines geliebten Hamsters und die Kübel, in die er urinierte. Während der Dreharbeiten erfuhr ich, dass die ehemalige Wohnung der Wallas leer stand und das ganze Haus demnächst abgerissen werden soll. Ich fuhr hin und fand mich in einem verlassenen Wunderland wieder. Da stand einTisch, dessen Beine in typischer Wallaschrift mit „GOTT“ beschriftet waren. Ein bemalter Schrank, beschriftete Febstersimse, eine bemalte Tür. Ja, das wars. Magie und Wirklichkeit, Zauber und Irrsinn, verdichtet in ein „Gesamtkunstwerk“. Ich demontierte Tisch und Schank, Türe und die Fenstersimse und packte alles in ein Auto und rettete die Fragmente in die Schweiz.
Erst viele Jahre später verarbeitete ich das intuitive, impulsive und manchmal magische Handeln von psychiatrischen Klinikinsassen. Ermutigt durch Gespräche und Bücher von Harald Szeemann, Alfred Bader und Leo Navratil rief ich in der Aargauischen Psychiatrischen Klinik Königsfelden in Windisch das Projekt „Künstler aus Königsfelden“ ins Leben, das Patienten der Klinik bei ihrer künstlerischen Arbeit unterstützte. So lässt sich verstehen, warum ich viele Jahre später unsere vierjährige Tochter ermutigte, den Esstisch zu zerstören.
Jahre vergingen. Anna war nicht mehr vier, sondern acht, neun Jahre alt. Der Esstisch wurde ersetzt. Er war zu schmal, ein Waschküchentisch eben – und kam wie alles das nicht mehr taugt – ins Atelier. Anna begann Fragen zu stellen. „Wie kam Gott in den Himmel?“ „Warum gibt es böse Menschen?“ „Kommen tote Bilder auch in den Himmel?“
Hier begann eine Reise, die noch nicht zu Ende ist. Wie erklärt ein Vater seiner Tochter die Welt? Ich und Anna suchten einen Weg um über Gott und die Welt zu sprechen. Die Welt war unser alter Esstisch. Wir fingen an gemeinsam zu zeichnen. Links, wo einst Anna sass, da war der Anfang der Welt, der Urknall, das Universum, die Ursuppe, die Dinosaurier. Jedes Kind kommt irgendwann in die Dinosaurierphase. Dinos gehören im Alter von vier bis fünf Jahren zur Ausstattung des Kinderzimmers und der kindlichen Phantasiewelt und spannen den Teddybären aus. Anna hatte einen grossen Dino, auf dem sie sogar reiten konnte. Er bewegte sich, machte wohlige Geräusche, drehte den Kopf und öffnete die Augen. Für einen wissenschaftlich interessierten Vater war dies die besste Einladung, ein Kind mit dem zweiten Satz der Thermodynamik, einem expandierenden Universum und dem sicheren Ende der Welt vertraut zu machen.
Der Tisch war für uns ein ein Weg, ein Ort, ein Weg und ein Werk, das seinen Anfang an Anna‘s Tischende hatte. Wir sprachen und zeichneten auf den Tisch. „Warum gibt es keine Dinosaurier mehr?“ Wo lebt das Einhorn? Wie sind Edelsteine entstanden? Gibt es die Zahnfeh überhaupt? Warst Du letztes Jahr der St. Nikolaus? Wir arbeiteten auf dem Tisch, auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Jeder für sich oder an gemeinsamen Zeichnungen und Bildern. Ich arbeite seit Jahren gerne auf Bildern, die ich Brockenhaus oder im Sperrmüll hole. Anna klebte ihre kleinen Sticker auf die Bilder und wir bearbeiteten wechselseitig oder gemeinsam das vorbestehende Bildmaterial. So entstand „The Return of the Unicorn“. Die Übermalung einer Reproduktion eines Blumenbildes von Renoir entwickelte sich zu einer Unterwasserlandschaft mit Korallen, Fischen, kleinen gefrässigen Monstern, Würmern und Stacheltieren (s. auch das Kapitel „Namoranna“).
Die Arbeiten am grossen Tisch kamen zum Ende, als unsere Gespräche zu diesen Themen einen Abschluss fanden. Anna wurde grösser und die Themen unsere Gespräche änderten. Sie wollte nichts mehr über das Universum hören oder über den verfluchten zweiten Satz der Thermodynamik. So beendeten wir de „Grossen Tisch“ – den malerischer Dialog zwischen Tochter und Vater über die Welt, das Universum und die Dinosaurier, über das Leben, das Lieben und über den Tod, der alles unterbricht, manches zerstört und manches vollendet, so dass ganz links am Kopfende des Grossen Tisches wieder etwas ganz Neues entstehen kann.